Unser öffentliches Leben… mit einer gewissen Gelbheit

Während zahlreiche Initiativen versuchen, die Parks, die Bahnhöfe und die Straße zurückzuerobern, findet der größte öffentliche Raum Berlins unter der Stadt statt. Er hat 1,5 Millionen Einwohner, ist 146 km lang und gehört der BVG. U-Bahn zurückerobern scheint in Berlin aber keiner Initiative ein sonderliches Bedürfnis. Kein Wunder, denn die U-Bahn gehört längst dem Volk.

Von Gloria Veeser

Berlins Straßen sind gelb - Foto: Dario Cassaniti

Die U-Bahn ist  für fast die Hälfte der Berliner tagtäglich die Realo-Öffentlichkeit schlechthin. Hier findet der Alltag statt, hier passiert Leben, Kunst und Kommuniaktion, Arbeit und Arbeitslosigkeit. Manch ein Metropolit verbringt hier mehr Zeit als im eigenen Wohnzimmer. Die U-Bahn ist kollektives Zuhause im öffentliche Raum. Mehr noch. Sie ist die öffentliche Zeit. Vier Perspektiven aus dem gelben Zwischenraum.

Freitagabend in der U9: Feierabendtraditionen

Vorfreude. Die Stadt trifft sich auf dem Heimweg. Die Krawatte lockern, anhand der Einkaufstüten das Abendessen visualisieren, Feierabendbier zischen. So ein BVG-Abo passt sich jedem Lifestyle an. Ist ja auch billig, bequem, schnell, so schön grün und für die CO2-Bilanz total chic. Vielleicht deshalb ist Berlin gerade feierabends so bunt. Hier sitzen Anzugträger neben Handwerkern, Türken neben Nazis, Ärzte neben Patienten, Künstler neben Schulkindern.

schon entspannen oder noch benehmen? Foto: Dario Cassaniti

Reich und Arm sind da, sitzen sich ganz nah gegenüber, teilen sich gemeinsam – wenn auch nicht zusammen – einen Raum. Reden ist zwar nicht drin, dafür wird sich aber durchaus neugierig bis unverholen begutachtet, wo man andernorts genant auf den Boden schaut. Es knistert ein Interesse am Gegenüber durchs Abteil, hin zum Anderen, dem man im richtigen Leben draußen nirgends so nahe kommen würde. Und nirgends sonst ist man mit so vielen anderen derart allein. Solange bis alle aussteigen und in ihre eigenen Lebens-, Arbeits-, Spielräume verschwinden.

Und ganz nebenbei: Oh Verzeihung, war das Kunst was da grade passiert ist? Ja, das mit der Farbe und dem Obst und so, ich meine wegen der Melodie. Achso, nur ein Versehen – verstehe. Naja, macht ja nix.

Samstagnacht: Partytrends in der U1

Kotti – Schlesi – Ostbahnhof: Nachts verwandelt sich diese U-Bahn Linie gar wundersam in den größten Club der Stadt. Die Ticketdealer am Eingang werden Türsteher, reinkommen lohnt sich: Es fühlt sich irgendwie so nach totally awesommm! an, so als wäre man aus Versehen in ein Fotoshooting für die neue Urban Outfitters Kampagne geraten. Es wird gepost was

Einmal abgeschnitten hilft auch Düngen nur begrenzt. - Foto: Dario Cassaniti

das Zeug hält, zurschaugetragen was der Kleiderschrank hergibt, und Haare geworfen. Außerdem für schlappe zwei Euro dreißig im Angebot: Nähe. Im Überfluss. Schweissnähe, Tatschnähe, Riechnähe. Wer sich liked darf mal schnuppern, stumm nebeneinander hergrinsend aneinander denken, Knie aneinanderstoßen. Das gibt’s bei facebook nicht. Schönes Profilbild liebe Nachbarn. Erstaunlich schön auch das Gegenüber. Und links davon. Und rechts davon. Ach, so trägt man jetzt das Haar? Interessant. Nur – könntet ihr künftig bitte alle brav eure Namensschilder tragen? Man kann ohne so schlecht googeln. Haben sie eine Bahnbekanntschaft? Bei Fernreisenden soll so was ja öfter mal vorkommen. Ab einer gewissen Zeitspanne im Intimraum des anderen ist das Schweigen eben nicht mehr auszuhalten. Besonders ab einer gewissen Enthemmungspegel. Nur die Haltbarkeitsdauer solcher Kontakte ist meist mit der von Schnittblumen vergleichbar. Noch ne Weile schön – aber eigentlich schon tot.

Sonntagmittags in der U2: Familie und Touristen regeln

Abenteuer U-Bahn. Schön zusammenbleiben liebe Kinder. Nein, nicht hauen, Ja, die Frau liest ein Buch, nein, ich weiß nicht was die Leute mit den lustigen Hüten für eine Sprache sprechen aber du sollst sie nicht so anstarren. Oder in der Nase popeln. Ja, essen ist erlaubt. Nagut dann dreh dich halt wild im Kreis, aber leise. Wir sind hier nicht Zuhause! Vor Publikum ist der Sonntagsfahrer noch eher ungern privat. Man benehme sich. So hat fast ein jeder seinen eigenen U-Bahn Knigge entwickelt. So erkämpft er sich mühsam den Weg und das Recht, dazuzugehören.

U-Bahn Sprache will gelernt sein: Das heißt dann wohl Nein. - Foto: Gloria Veeser

Ein echter Einheimischer greift bei Bedarf regulierend ein, denn er beherrscht die hohe Untergrundkunst längst im Schlaf. Rechts laufen, Abstand halten, Zug hält vorne, rennen ist was für Touristen. Rauchen geht gar nicht, trinken nur zum Feierabend, dann aber allein, umschauen zur Orientierung erlaubt, aber bloß nicht zu lange ankucken. So weit voneinander weg wie möglich setzen. Ja nicht ansprechen, es sei denn, es passiert unmittelbar ein Ereignis über das es sich gemeinsam zu beschweren gilt. Verstöße durch Regelunkundige möglichst auffällig ignorieren. Oder würden sie erstmal aufräumen wenn sie sehen, dass ein Mitreisender seinen Müll in ihrem Abteil vergessen hat? Und ganz wichtig: pflegen sie ihre U-Angst. Egal ob vor herrenlosen Taschen, jugendlichen Schlägern oder vor Überwachungskameras. Machen sie es NYC-Style: „if u see something – say something“.

U9 again: Montagmorgenrituale: Bitte während der Fahrt nicht mit dem Nachbarn sprechen

Rüstung anlegen, bloß nicht aus den Augen rausgucken, Blick nach innen richten. Zeit ist Geld. Bücher, Skripte, Kopfhörer, Hausaufgaben. Das Accesoire als stummes Bekenntnis: Intellektuell mit Zeitung, multimedial mit iPad? Oder zeigt man sich gar solidarisch und hat womöglich mal n Euro parat? Da findet sie statt, die Armut, und verlangt von einem jeden ein Bekenntnis.

Mein Buch, meine Zeitung, mein Nachbar - Foto: Gloria Veeser

Geben sie Schnorrern aus Prinzip kein Geld? Oder entscheiden sie das je nach Talent oder Sympathie? Machen sie ihre Barmherzigkeit gar von ihrer Laune abhängig? Oder verfolgen sie eine Strategie? Wenn man nur lange genug überlegt, geht der Schnorrer wieder weg. Kollektive Erleichterung schweißt den Waggon zusammen. Lasst uns alle so tun als sei das alles nie passiert. Also passiert das Leben weiter unbemerkt und Öffentlichkeit findet weiter ereignislos statt, während alle warten. Ein Raum prall gefüllt mit Zeit, ein Raum der eigentlich nur aus Zeit besteht und nur als Warten wahrgenommen wird.Warum also nicht nebenher was Sinnvolles tun. Versuchen sie sich hinter dem schützenden Buch doch mal mit Psychoanalyse. Zum Beispiel über das Sozialverhalten im Viererabteil. Sie werden sehen – der öffentliche Transitraum ist hochgradig spannend. Probieren sie’s doch mal aus. Das Fahrrad heute einfach mal stehen lassen. Bewegung im öffentlichen Raum tut zwar gut, aber noch besser tut es, wenn sich der öffentliche Raum für einen bewegt. Ist auch gut fürs Klima.