15 Sep

Dichter dran

Ob Weblogs, Facebook oder Twitter: Im Internet teilen viele Menschen private Erlebnisse. Für die einen ist es ein Ort des ungebremsten Exhibitionismus, für die anderen ist es ein Ort für Reflexion, Austausch und Nähe. “Alles, was ich bislang gegeben habe, habe ich auch zurückbekommen”, sagt Anke Gröner, eine der bekanntesten Bloggerinnen Deutschlands.

Von Kathrin Klette

 

Anke Gröner

"Anderen beim Leben zugucken": Für die Bloggerin Anke Gröner birgt das Internet viel Potenzial - Foto: Frîa Hagen

Es war kein guter Tag, als Anke Gröner ihren ersten persönlichen Blogeintrag schrieb. „Ich kann einfach nicht schnell genug vor mir wegrennen. Ich hole mich immer wieder ein“, schrieb sie am 11. November 2002. Der Text handelte von Einsamkeit, Verzweiflung und dem Gefühl, das Leben nicht auf die Reihe zu kriegen.

Anke Gröner ist 42 Jahre alt, wohnt in Hamburg und arbeitet als Werbetexterin. Schon seit langem ist sie eine der bekanntesten Bloggerinnen Deutschlands; etwa 1500 Leute lesen bei ihr täglich mit. Dieser Tage erscheint ihr erstes Buch. In ihrem Weblog “ankegroener.de” steht ihre Adresse, auf ihrem Twitter-Account ist ein kleines Foto von ihr zu sehen. Es zeigt eine lachende Frau mit Hornbrille und Basecap, die die rechte Hand in Richtung der Kamera hält. Sie ist erkennbar, sie macht sich angreifbar. „Ich glaube erst mal an das Gute im Menschen“, sagt Gröner, „und alles, was ich bislang gegeben habe, habe ich auch zurückbekommen.“

Anderen beim Leben zugucken

2001 begann sie, US-amerikanische Blogs zu lesen. Sie war begeistert von der Fülle an Geschichten, die sie entdeckte. Sie las Texte über Menschen, die sie nicht kannte und die ein Leben führten, das nichts mit ihrem eigenen zu tun hatte. Texte alleinerziehender Mütter, Tagebücher von Amerikanerinnen, literarische Blogs. “Ich gucke einfach anderen gerne beim Leben zu”, sagt Gröner.

Im Januar 2002 eröffnete sie dann ihr eigenes Blog. Zuerst schrieb sie Filmkritiken, bald folgten Texte über Privates, das Essen, Golfspielen und darüber, was es für sie bedeutet, dick zu sein. „Blog like nobody’s watching“, heißt der Untertitel ihres Blogs – blogge, als ob dir niemand zuschaut. „Irgendwann habe ich nicht mehr darüber nachgedacht“, sagt sie.

Was ist eigentlich privat? Knutsch-Fotos, Urlaubserlebnisse oder das Geständnis eines Burn-Outs? Durch Weblogs und Social-Media-Dienste wie Facebook und Twitter scheinen sich die Einstellungen der Gesellschaft über das, was man mit anderen Menschen teilen kann und will, zu verändern. „Ihre Privatsphäre verschwindet, finden Sie sich damit ab“, sagte Leonard Kleinrock, der 1969 die erste Internetverbindung legte, der „Süddeutschen Zeitung“. Besorgte Eltern raten ihrem pubertierenden Nachwuchs, nicht allzu leichtfertig Partyfotos ins Internet zu stellen.

Nackt in der Sauna

Der US-Professor und Internet-Pionier Jeff Jarvis ist einer der Verfechter von mehr Öffentlichkeit in der Gesellschaft. 2009 schrieb er in seinem Blog „Buzzmachine“, dass er an Prostatakrebs erkrankt sei. „Wenn ich irgendwelche Zweifel an radikaler Transparenz gehabt hätte, wären sie in Sekunden zerstreut worden. Hunderte Tweets und Kommentare trudelten […] ein und wünschten mir Glück, gaben mir Ratschläge und machten Witze“, schrieb er im „Guardian“.

Ein Leser habe Jarvis gesagt, dass er durch seinen Post zur Vorsorgeuntersuchung gegangen sei. Wenn diese neue Öffentlichkeit im Netz dazu dienen kann, näher zusammenzurücken und sich zu helfen – hier ist es gelungen. Auf der Netzkultur-Konferenz „Republica“ in Berlin sagte Jarvis 2010, er finde es viel merkwürdiger, dass die Deutschen keine Scham hätten, mit fremden Menschen nackt in eine Sauna zu gehen.

Beleidigende Kommentare und Mails

Sicher, das Internet hat auch seine dunklen Bereiche. Es gibt die Nörgler, die Querulanten, die Hetzer. „Das Netz hat die Fähigkeit, sowohl das Gute als auch das Schlechte des Menschen zu potenzieren“, sagt Gröner. Sie selbst hat das in den Jahren ihres Bloggens erlebt, sie bekam beleidigende Kommentare und Mails. „Du blöde Feministinnen-Kuh“ schrieb ihr jemand, als sie sich in einem Artikel über einen Postboten geärgert hatte. Als sie über einen Tag schrieb, an dem alles schief gelaufen war, hieß es, das seien doch Luxusprobleme; in Afrika sei das Leben viel schlimmer. Manche Kritik hat sie selbstbewusster gemacht, sagt sie heute.

Inzwischen hat Gröner die Kommentarfunktion in ihrem Blog geschlossen; wer ihr etwas mitteilen will, muss ihr eine Mail schreiben. Diese Grenze zu ziehen, zwischen sich und den Lesern, ist ihr wichtig. „Ich habe keine Lust, jede meiner Regungen mit den Lesern durchzukauen.“ Für Texte, die ihr wichtig sind, nimmt sie sich zwei bis drei Tage Zeit. Unüberlegt veröffentlicht sie nichts. Über Politik, Religion und Sexualität schreibt sie nicht. Dies wäre ihr zu privat. Auch über ihren Job wird man bei ihr nichts lesen.

Digitales Leben wird real

Die Verzahnung von digitalem und realem Leben – bei manchen Bloggern hat sie längst stattgefunden. Wenn die 42-Jährige im realen Leben jemanden trifft, dessen Blogposts oder Tweets sie schon lange liest, gibt es selten Überraschungen. „Ich weiß, wer vor mir steht“, sagt sie. Von ihren Freunden hat sie inzwischen mehr im digitalen Leben kennengelernt als auf Partys, wo man nur zufällig auf Leute trifft, von denen man noch gar nichts weiß.

Über das eigene Leben zu schreiben und anderen beim Leben zuzugucken – hört man Anke Gröner zu, glaubt man, dass das Internet die Menschen wirklich einander näher bringen kann. „Es kann nie schlecht sein, etwas über andere zu erfahren“, sagt sie. Man lernt sich kennen und verstehen und kann Rückhalt und Verständnis erfahren. Plötzlich ist man dichter dran – an den Menschen und ihrem Leben.

13 Sep

Verzweifelte Zeichen

Alle reden von der Liebe. Am schönsten kann man die Sehnsüchte unserer Zeit beim Kurznachrichtendienst Twitter verfolgen. Aber was sagt das Bedürfnis, sein Herz auszuschütten über uns, und wie kommen wir da wieder raus? Eine Tweet-Show über die Sprache der Liebe in Zeiten der Echtzeit-Kommunikation.

Von Sebastian Dörfler


“Wonach hast Du bei Google gesucht?”"Nach Liebe.”"Und was hast Du gefunden?”"Twitter.”
@gedankenklo
Benjamin L.


“Ist das Liebe oder kann das weg?”
@muserine
Cares-Teen

Wenn alle über die Liebe reden – in Filmen, Romanen, Ratgebern, Gesprächen, Texten – ist das ein sicheres Zeichen für ihre Abwesenheit. „Sprache erwächst aus Abwesenheit“, schrieb schon Roland Barthes in seinem Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“. Wenn die Liebe also überall zu sein scheint, ist sie immer auch nirgends.

Da schon immer viel über die Liebe geredet wurde, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie noch nie so richtig präsent war. Liebe definiert sich vor allem durch ihre Flüchtigkeit, durch ein unsicheres Zeichensystem.

Nirgends kann man dieses Zeichensystem schöner beobachten, als beim Kurznachrichtendienst Twitter. Der allseits beliebte Linkverteiler ist längst auch Emokanal Nummer Eins geworden. Überall finden sich hier die Symbole der Intimitätssuchenden: #hach und<3.


Jeder Tweet ein stummer Schrei nach Liebe.Ungehört, verschrieben, verlassen.
@schlenzalot
schlenzalot


Sonntags zu zweit im Bett wäre mir wesentlich lieber als allein am Schreibtisch gewesen…………. Na, Schreibtisch, Du heißes Teil!
@Weltregierung
words like swords

Dass man der Liebe dort soviele Zeichen widmet, hat einen Grund. Vielleicht lässt sich in 140 Zeichen jene Entwicklung am besten kompensieren, die der Soziologe Sven Hillenkamp in seinem Buch „Das Ende der Liebe“ beschrieben hat.

Wir sind so freie Menschen wie nie zu vor, heißt es da. Und gleichzeitig so überfordert, weil wir das Versprechen der totalen Selbstverwirklichung nicht einlösen können. Wenn etwas nicht klappt, versinken wir in Selbst-Zweifeln – woran sollte es auch liegen, wenn nicht an uns? Die Liebe muss all das kompensieren. Von ihr verlangen wir „Entgrenzung und Geborgenheit, Herausforderung und Bequemlichkeit“. Am besten alles gleichzeitig.


Twitterer & Liebe, das ist wie die BILD-Berichte über bedrohliche Asteroiden: Unterhaltsam zu lesen, aber am Ende passiert doch wieder nix.
@diktator
diktator


immer diese “liebe” überall. kotz bald in fremde münder wenn das so weitergeht. sucht euch mal ein leben.
@placetogo
Ilsa, Wölfin.

Wir haben die Liebe viel nötiger als früher, schreibt deshalb auch Antje Schrupp. Weil die Liebe „die einzige menschliche Beziehungsform ist, die noch verlässlich Zugehörigkeit schafft, einen Ort für die Individuen, in denen sie sich ‘zuhause’ fühlen, losgelöst von ihrer Funktionalität und Leistungsbereitschaft, ihrer Performance und Bewertbarkeit.“ Die Liebe „ist heutzutage der einzige legitime und aktzeptierte Grund, sich an andere Menschen zu binden.“


Liebe ist wie sich in die Hose pissen.Jeder kann es sehen, aber nur du fühlst die Wärme.
@schlenzalot
schlenzalot


So, wer mag mich jetzt heiraten?!
@kotzend_einhorn
Kotzendes Einhorn

Die Liebe ist die Oase der Leistungsgesellschaft. Auch wenn sie gefunden ist, muss sie ständig vergegenwärtigt werden, damit sie nicht sofort wieder verschwindet. Vielleicht ist das das neue an der Sprache der Liebe: „Liebe“ ist heute die permanente Kommunikation.

Dank der Entgrenzung der Liebe hat das private Glücksversprechen andere Faktoren, die unser Leben zeichnen, fast vollständig verdrängt.


RT @: Spiegel Online sagt “Einsamkeit schadet genauso wie Rauchen”. Bleiben Sie ruhig und twittern Sie weiter.
@hoch21
Roman Held ♛

Vielleicht gibt es Auswege aus dem System Liebe deshalb nur noch in Momenten. „Manchmal erwache ich blitzartig“, schreibt Roland Barthes, „fern meiner ganzen kleinen, gewohnten Welt steigt urplötzlich ein machtvoller Satz in mir auf: ‘Aber was schwatze ich denn da?’ Es ist die Liebe, die dann entwirklicht erscheint.“

Niemand will die Liebe entwirklichen. Nur ab und an mal aus der eigenen, kleinen Welt hochschrecken und den Blick wieder nach draußen richten – das wäre sowas von …<3.