15 Sep

Big Brother und seine kleinen Schwestern

Seit einigen Jahren werden immer größere Bereiche der Innenstädte von Videokameras überwacht. Daran gibt es viel Kritik. Denn eigentlich zeichnet sich öffentlicher Raum dadurch aus, dass sich alle in ihm unerkannt bewegen und aufhalten können. Doch wie groß ist der gefilmte Bereich tatsächlich? Ein Beispiel aus Berlin Neukölln.

Von Judith Fiebelkorn

Zu diesem Projekt

Wie groß ist der überwachte Bereich? Die Kamerakarte des Berliner Seminars für angewandte Unsicherheit zeigt alle Kameras in der Neuköllner Hermannstraße. Im Bereich zwischen der Mahlower Straße und der Rollbergstraße gibt es 21 Geschäfte, deren Ladenflächen und teilweise auch die Außenbereiche mit Videos überwacht werden. Diese Karte wurde überprüft und versucht herauszufinden, um welche Kameratypen es sich handelt. Falls das nicht möglich war, wurde anhand der Angebote von Sicherheitsunternehmen ein Kameratyp ausgewählt, der am ähnlichsten erschien. Davon wurde auf den Bereich geschlossen, der theoretisch von den Kameras erfasst werden kann. Dabei wurde von den jetzigen Bedingungen ausgegangen: Wenn ein Geschäft beispielsweise große offene Fensterflächen hat, war die Annahme, dass auch ein weiter Bereich der Straße gefilmt werden kann. Anders herum wurde bei Geschäften, deren Fensterflächen beispielsweise mit Werbung verdeckt waren angenommen, dass nur der Innenbereich aufgezeichnet wird.


Videoüberwachung in der Hermannstraße auf einer größeren Karte anzeigen

Begonnen hat die Videoüberwachung in den Fünfziger Jahren, als die Polizei anfing, den Verkehr in Innenstädten mit Hilfe von Kameras zu lenken. In den Achtziger Jahren kamen dann vor allem Kameras in Kaufhäusern oder Ladenzeilen hinzu. Heute gibt es kaum eine Straße in den Innenstädten, in der nicht gefilmt wird.

Denn immer dann, wenn ein Ort als besonders gefährlich wahrgenommen wird, scheint die Videoüberwachung das einzige Mittel, um Gewalt oder Drogenhandel zu verhindern. Und die Laden- und Hausbesitzer wollen sich vor Einbrüchen schützen. Dabei ist die Wirkung der Kameras umstritten. An der Hamburger Reeperbahn hat die Zahl einiger Delikte in den ersten drei Jahren der Videoüberwachung sogar zugenommen. Langzeitstudien gibt es dazu bislang aber nicht.

Die meisten Menschen haben sich längst daran gewöhnt, dass sie gefilmt werden, wo immer sie sich bewegen. Was sollten sie auch dagegen tun? Auf Supermärkte oder die U-Bahn können schließlich die wenigsten verzichten. Datenschützer sehen aber das Persönlichkeitsrecht jedes Einzelnen durch Videoüberwachung beeinträchtigt. Und Soziologen fürchten, dass Passanten ihr Verhalten ändern, weil sie sich beobachtet fühlen. Auch das ist bisher kaum erforscht.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Doch die Richter des Bundesverfassungsgerichtes haben 1983 mit diesem Argument auch das Volkszählungsurteil begründet und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung festgelegt: Jeder Mensch hat das Recht zu wissen, welche Daten von ihm gespeichert werden und was mit diesen Daten geschieht. Denn wer das nicht beeinflussen kann, wird auf lange Sicht sein Verhalten anpassen, sein persönliches Entfaltungsrecht und seine demokratische Handlungsfähigkeit werden gefährdet.

Vielen sind die Kameras aber auch als Teil des Gentrifizierungsprozesses ein Dorn im Auge. Zu diesen Kritikern gehören auch die Aktivisten und Aktivistinnen des Berliner Seminars für angewandte Unsicherheit („die SaU“) Denn ihrer Meinung nach steigt in Stadtteilen, in denen die sozialen Unterschiede besonders groß sind, das Sicherheitsbedürfnis derjenigen, die ihr Eigentum vor Schmierereien und ihre Kinder vor dem Anblick von herumlungernden Alkoholikern schützen wollen. Die Videoüberwachung sorge dafür, dass sich bestimmte Gruppen nicht mehr im öffentlichen Raum aufhalten können, weil sie immer fürchten müssen, von den Sicherheitsdiensten hinter den Kameras vertrieben zu werden. Langfristig führe das mit dazu, dass sie aus den Quartieren verdrängt werden.

Die kleinen Schwestern machen das schon

Die SaU führt Kameraspaziergänge durch, bei denen sie zeigt, wie viele Kameras in den Straßen hängen und wie mit einfachen Mitteln sogar Bilder von den Funkkameras abgefangen werden können. „Meist sind die Leute erstaunt, wie groß die überwachten Bereiche sind“, sagt Fiona von der SaU. Dabei geht es ihnen nicht darum, die einzelnen Kiosk- oder Imbissbesitzer zu verurteilen, die eine Kamera in ihrem Laden haben. Das Problem sei vielmehr, dass alle zusammen ein Netz ergeben, das eine großflächige Überwachung der Innenstädte möglich macht. Statt eines „großen Bruders“ wie in Orwells Horrorszenario des totalen Überwachungsstaates erledigen seine vielen kleinen Schwestern den Job.

 

13 Sep

Zelten für mehr Demokratie

Sie sind empört. Deswegen kampieren sie auf öffentlichen Plätzen. Alle sollen von ihrer Empörung erfahren und sich ihnen anschließen. Sie betrachten das Gesellschaftssystem als gescheitert und  fordern mehr politische Teilhabe. Sie rufen “Echte Demokratie jetzt!“ und „Es lebe die Revolution!“ Die Bewegung “Acampada Berlin” im Portrait.

Von Wolf-Hendrik Müllenberg

 

Acampada Berlin vor dem Brandenbuger Tor

Acampada Berlin vor dem Brandenburger Tor - Foto: Sebastian Dörfler

Jenny war mit Papi auf Shopping-Tour bevor sie versehentlich auf dieser Kundgebung landete. Die 19-Jährige steht im schwarzen Mini-Rock auf dem Alexanderplatz. Hier wird gerade gegen den Überwachungswahn in Deutschland protestiert. 5.000 Leute machen mit. Motto: „Freiheit statt Angst“. Jenny trägt eine prall gefüllte Einkaufstüte von Gina Tricot. Neben ihr steht ihr Vater, in jeder Hand hat er zwei weitere Tüten. Sie lauschen dem Beitrag einer Rednerin, die als „Willi Watte“ in Wattestäbchen-Kostüm auf der Bühne steht und die Polizei auffordert „ab sofort keine DNA-Proben von den Leuten zu nehmen“. Jenny möchte jetzt lieber nach Hause fahren – bis Ari sie aufhält.

Die 24-Jährige Ari hat Großes vor. Sie will Jenny von einer Idee überzeugen. Diese Idee geht so: Menschen besetzen den öffentlichen Raum und machen ihn zum Ort der Debatte.. Sie fordern: „Echte Demokratie Jetzt!“. Ari erzählt Jenny von Spanien, wo im Mai über 100.000 Menschen im ganzen Land vier Wochen gegen die wirtschaftliche und politische Krise auf die Straße gingen. Die spanische Jugend baute auf öffentlichen Plätzen Zeltlager und sang „Democracia real Ya“ Auch  in Berlin wurde inzwischen für echte Demokratie gezeltet. Und zwar auf dem Alexanderplatz, wo jeder den Protest sehen und hören kann.

Die Empörten

Es ist die Bewegung der „Empörten“, erfährt Jenny von Ari. Sie folgen der Protestschrift von Stéphane Hessel. Der 94-Jährige war aktives Mitglied der französischen Résistance. Sein Buch “Indignez-vous!” verkaufte sich in Frankreich fast zwei Millionen Mal. Darin wettert er gegen Ungleichheit, Finanzkapital und Fremdenhass. Er fordert die Jugend auf: Empört Euch!

Ari drückt Jenny einen Flyer in die Hand und zeigt auf die Muschelzelte neben ihr. Mit diesen Zelten kampierte sie mit den anderen Aktivisten von „Acampada Berlin“ eine Woche lang auf dem Alex. Tag und Nacht -  bis die Polizei das Protestcamp räumte. Warum das alles? Weil Acampada Berlin für das Recht auf politische und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen steht. So steht es auf dem Flyer. Oder wie Ari es ausdrückt: „Weil wir nicht alle vier Jahre unser Kreuzchen machen wollen und dann war’s das!“

„Aber muss man dafür auf dem Alex zelten?“, fragt Jenny. Sie ist nicht überzeugt und zieht mit ihrem Vater von dannen. Ari versucht es weiter und spricht die Nächsten an. Gar nicht so einfach die Menschen für eine Demokratiebewegung zu begeistern, bei der man auf ein warmes Bett verzichten muss. „In der linken Szene ist die Akzeptanz für unsere Protestform größer. Aber wir möchten eben alle Menschen für unsere Camps begeistern.“, sagt Ari. Es gibt sicherlich Schöneres als mit der Isomatte auf kaltem Beton zu schlafen. Doch für Ari hat es sich jetzt schon gelohnt: „Ich habe hier viele Freunde gewonnen.“

“Auf dem Alex triffst du jeden”

Ari ist jetzt seit drei Wochen bei Acampada Berlin. Die anderen Demokratiebewegten traf sie das erste Mal auf dem Rückweg eines Vortrags der Umweltaktivistin Vandana Shiva. Ari radelte über den Alex, sah die Zelte und sprach mit den Empörten über die Themen, die sie bewegen: Wahrung der Menschenrechte, Globalisierungskritik, Antifaschismus. Ari zögerte nicht lange, fuhr nach Hause und holte ihren Schlafsack.

Zelten für eine andere Welt – Ari hat das in Spanien selbst beobachtet. Dort sah sie wie junge Spanier auf öffentlichen Plätzen Volksversammlungen durchführten – ganz ähnlich der ersten Besetzung des Tahir-Platzes in Kairo.  Nun also der Alex. Kein zufälliger Ort. Acampada Berlin wählte ihn wegen der Nähe zu großen Unternehmen und Geschäften und wegen der vielen Menschen. „Egal ob Geschäftsmann oder Harz-IV-Empfänger, auf dem Alex triffst Du jeden“, sagt Marc. Marc hat eine Tochter, die bald zur Schule geht. Wegen ihr ist er bei Acampada. „Meine Kleine soll nicht als Produkt in dieses gescheiterte System gepresst werden. Für sie will ich die Welt ein Stück weit besser machen!“

Voraussetzung dafür sei echte Demokratie. Für Marc heißt das: basisdemokratisch Lösungen erarbeiten. Genau wie es Acampada bei ihren „Asambleas“ auf dem Alexanderplatz praktiziert. Jede Woche treffen sich die Aktivisten zu diesen öffentlichen Versammlungen. Alle Themen sind denkbar. Sie diskutieren über neue Aktionsformen oder die Mietpreiserhöhungen in Berlin, aber auch große Themen werden besprochen: Wie realisieren wir einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel?

Die Antworten liegen nicht in irgendeiner Schublade, sie müssen gemeinsam entwickelt werden, sagt Marc. „Wir haben viele Ideen, bei manchen wissen wir aber noch nicht, wie man sie umsetzen kann.“ Acampada möchte die Menschen vernetzen und Begegnungen  ermöglichen. Eine Denkfabrik im öffentlichen Raum, wo sich die Leute auch berühren können. Bei Facebook auf „Gefällt mir“ zu drücken, reicht Acampada nicht.